In der Praxis zeigt die Marktwirtschaft Schwächen: „Soziale Ungerechtigkeit, ökologischer Raubbau, entfremdete Arbeit, Lobbyismus, Korruption und Gier“ listen Oliver Richters und Andreas Siemoneit auf, und doch lohnt es sich ihnen zufolge, die Marktwirtschaft zu reparieren, wie sie in ihrem gleichnamigen Buch schreiben – denn in der Theorie sei die Marktwirtschaft eine noch unrealisierte, soziale Utopie (daher auch der Untertitel „Entwurf einer freiheitlichen, gerechten und nachhaltigen Utopie“). Sie loben den Grundgedanken einer leistungsgerechten und freien Ordnung mit Wettbewerb, und darin unterscheiden sie sich von manchen Wachstumskritikern. Oliver Richters und Andreas Siemoneit fordern kein neues System, sondern die Reparatur der marktwirtschaftlichen Ordnung, wodurch ihr Buch auf den ersten Blick weniger radikal daherkommt, aber bei näherer Betrachtung würden sie unser Wirtschaftssystem gründlich durchschütteln.
Das beträfe auch Bauen, Stadtwandel und Wohnen, die nur an einigen Stellen ausdrücklich erwähnt werden, etwa bei Mietsteigerungen und vor allem beim Bodenwert. Knifflig wird es, die wirtschaftspolitischen Aussagen auf den Stadtwandel zu übertragen, weil es beim Bauen nicht um ein übliches Konsumgut geht, sondern die „Produkte“, also die Wohnungen und Häuser, fünfzig und hundert Jahre stehen, und weil Äcker und Boden nicht beliebig vermehrbar sind. Mit diesen Einschränkungen aber lohnt auch für Bau- und Bauverbotinteressierte die Lektüre des kompakten Buches, das für Ökonomen mit kritischem Anspruch Pflichtlektüre sein dürfte, und für alle anderen verständlich bleibt. Das liegt auch an der äußerst klaren Ordnung des Buches: Nach einer Einführung zu den Schieflagen unseres Wirtschaftssystems folgen Kapitel zu Theorie und Praxis der Marktwirtschaft, aber fliegen wir gleich zum spannendsten Teil, in dem nach Seite 80 „vier Brennpunkte der Marktwirtschaft“ untersucht werden, anders gesagt vier kaputte Teile unseres Wirtschaftssystems und wie wir sie reparieren können.
Technologie und Energie
Überspringen wir auch die erste Reparatur, weil die Aussagen zum Geldsystem am wenigsten Bezug zum Stadtwandel bieten, ganz anders als das zweite kaputte Element unserer Marktwirtschaft: „Technologie, Ressourcenverbrauch und Wachstumszwang“. Technologie dient den Autoren zufolge meist dazu, Ressourcen besser auszubeuten. Als eine Art unlauterer Wettbewerb verzerre das den Leistungswettbewerb und zwinge andere dazu, ebenfalls mit mehr Technologie mehr Ressourcen einzusetzen. Weil es in unserem System wenig kostet, Natur auszubeuten, gehen die ökologischen Schäden in keine Rechnung ein, sondern es wird belohnt, wer mehr Ressourcen einsetzt oder gar verschwendet.
Das führt zu einer ersten Nebenüberlegung des Rezensenten: Die technologiekritischen Passagen erinnern an die Technisierung im Hausbau, an künstliche Belüftung, Passivhäuser und an Dämmstoffe aus erdölbasierten Stoffen wie EPS. Vermeintlich dienen sie dazu, Geld und Energie zu sparen und Häuser effizient zu machen, und erst eine ganzheitliche ökologische Bilanz zeigt, dass die Herstellung dieser Materialien enorm energieaufwändig ist – jedes Bauen verbraucht Energie, und das Bauen von Passivhäusern verbraucht noch mehr Energie.
Wachstumszwang
Die Autoren widmen sich Wachstumszwängen in Unternehmen, Haushalten und der Politik, und das regt zu einer zweiten Nebenüberlegung an, zum Wachstum der Städte und der Zersiedelung durch das nächste und übernächste Baugebiet am Stadtrand. Teilweise hat dies seine Ursache darin, dass Kommunen meinen, marktwirtschaftliche Wachstumsorientierung übernehmen zu müssen, um im Wettkampf mit den Nachbargemeinden besser dazustehen. Das ist ohnehin tragisch, da unsere Gemeinden das Wohlergehen der Menschen im Sinne haben sollten und nicht das Besserergehen als die Nachbarn. Obendrein wurde vielfach gezeigt, dass vermeintliche Vorteile durch mehr Einwohner nach wenigen Jahren verschwinden, weil der Zahlungsausgleich zwischen den Kommunen sie wieder gleichstellt.
Auch die Häuslebauer tragen zum Stadtwachstum bei und erkaufen sich den Vorteil einer ruhigen Wohnlage im Grünen damit, dass sie das Grün zerstören. „Der Tourist zerstört, was er sucht“ (die unberührte Natur), lautet eine Sentenz, und so kann man übertragend sagen „Der Häuslebauer zerstört, was er sucht“ (unberührte Natur), und zwar dreifach durch die Bebauung des Bodens, durch die aus weiteren Wegen folgenden klimafeindlichen Autokilometer und durch den Energieaufwand des Bauens selbst.
Zurück zum Buch und zu den Reparaturmaßnahmen, die Richters und Siemoneit vorschlagen: Ressourcenverbrauch senken (Energiepreise erhöhen), umweltfeindliche Subventionen senken und institutionelle Grenzen ziehen; mit letzteren meinen sie Obergrenzen für Verbrauch und gegebenenfalls einen marktwirtschaftlichen Handel mit Verbrauchszertifikaten. So ähnlich gibt es übrigens Planspiele zu Flächenzertifikaten, um den Flächenverbrauch zu senken, wobei uns bislang die Obergrenze fehlt, die das erst sinnvoll macht, also eine bindende Grenze für Flächenverbrauch.
Bodenfragen
Die dritte Reparatur der Marktwirtschaft sehen die Autoren bei „Grundeigentum, Lage und öffentlichen Subventionen“. Es geht um die leistungslosen Einkommen von Bodeneigentümern und das Buch greift hier Argumente auf, die in der aktuellen Diskussion um eine Reform der Grundsteuer verwendet werden: Die Bodenpreise steigen und davon profitieren Eigentümer, ohne dafür etwas zu tun – darum sollte man ihre Extragewinne abschöpfen durch Bodensteuern, wie sie schon Henry George vorschlug.
An dieser Stelle sei vom Rezensenten eine dritte Nebenüberlegung eingefügt zur derzeit oft zu hörenden Forderung, die Grundsteuer durch eine reine Bodensteuer zu ersetzen, in der allein der Bodenwert besteuert würde, nicht aber der Immobilienwert. Es mag ja sein, dass ein sehr großer, ja ein überwiegender Anteil der steigenden Hauspreise und demzufolge auch der steigenden Mieten durch den Anstieg der Bodenpreise verursacht wird. Dennoch leuchtet mir nicht ein, den Immobilienwert außer Acht zu lassen, schon weil es doch übertragen gesagt dabei auch um den Boden geht: Um Büroboden, Küchenboden, um alle Arten von Böden und Fläche in Gebäuden, und es macht nunmal einen Unterschied, ob auf einem Grundstück jemand ein einstöckiges Gebäude besitzt oder ein zehnstöckiges. Der Eigentümer des zehnstöckigen Hauses nimmt deutlich mehr Miete ein, also soll er auch mehr Grundsteuern zahlen.
Eine Bodenwertsteuer hätte Vorteile, wie auf diesem Blog schon ausgeführt, weil Sanierung nicht durch höhere Grundsteuern bestraft würde. Aber viele Verfechter einer reinen Bodensteuer möchten die Eigentümer von gering oder gar nicht bebauten Grundstücken unter Druck setzen, damit diese mehr und dichter bauen – und die Verdichtung um jeden Preis und Bauwut auf innerstädtischen Freiflächen sind unökologisch. Ein Beispiel zeigt die Folgen: es gibt in vielen Städten einzelne Eigentümer, die ein altes niedriges Haus auf ihrem Grundstück haben und dort zu niedrigen Mieten wohnen lassen. Eine reine Bodensteuer zwingt sie, Mieten zu erhöhen, oder, noch schlimmer, abzureißen und teuer neu zu bauen.
Als vierte Reparaturstelle geht es in dem Buch um „Kapitalakkumulation und wirtschaftliche Macht“: Die Autoren schildern die Macht von Großkonzernen, seien es international Konzerne wie Facebook und Google oder in Deutschland die Automobilwirtschaft. Das Gegenmittel wäre die Aufteilung großer Konzerne. Das klingt radikal, aber vielleicht wäre es sogar die harmlose Variante im Vergleich zur Enteignung, die derzeit manche für Immobilienkonzerne in Berlin fordern. Ganz im Sinne des Buches: Nicht alles umwälzen, nur fast alles – erstmal reparieren.
Oliver Richters, Andreas Siemoneit:
Marktwirtschaft reparieren
Oekom Verlag, 2019, 196 Seiten, 17,00 Euro
ISBN 978-3-96238-099-1
Erhältlich in der Buchhandlung Ihres Vertrauens oder direkt beim Verlag.
www.marktwirtschaft-reparieren.de
Es gibt auf dem Bauverbot-Blog unter anderem folgende Buchbesprechungen:
Frank Adler, Ulrich Schachtschneider, Postwachstumspolitiken. Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaft (unter anderem mit einem Beitrag von Oliver Richters und Andreas Siemoneit, den Autoren von „Marktwirtschaft reparieren“)
Michael Kopatz: Ökoroutine
(Ausstellungskatalog) Bauen und Wohnen in Gemeinschaft
Turit Fröbe: Die Kunst der Bausünde
Brigitte Schultz: Was heißt hier Stadt?
Kristien Ring (Hrsg.): Selfmade City
Niklas Maak: Wohnkomplex
Ein vergleichender Text zu „Verbietet das Bauen!“ und dem Buch von Niko Paech „Befreiung vom Überfluss“ findet sich hier.
Um Postwachstum (und Bauverbot) geht es im Kapitel „Zu guter Letzt: Anders wirtschaften“ im Buch Verbietet das Bauen!
Um ähnlich grundlegende Fragen dreht sich Kapitel 2 „Stadtwandel in Zeiten des Klimawandels“ im Buch Willkommensstadt.
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