Die Geschichte des Städtebaus und seiner Diskussion im Spiegel von fünf Jahrzehnten der Fachzeitschrift „Stadtbauwelt“ zu schildern ist das ambitionierte Thema des Buches „Was heißt hier Stadt?“ von Brigitte Schultz. Wie sich seit 1964 die Vorstellungen von der Stadt und der Stadtplanung veränderten, das wäre schon schwierig genug zusammenzufassen,
doch parallel dazu die Geschichte der vierteljährlichen Stadtbauwelt als Schwester des wöchentlichen Architekturmagazins Bauwelt nachzuvollziehen, das erscheint eine herkulische Aufgabe. Doch mit leichter Hand meistert Brigitte Schultz diesen Ritt durch die Jahrzehnte, durch Ideale und Enttäuschungen: Sie schildert den Fortschrittsglauben der 1960er und beginnenden 70er Jahre, als der Glaube an die Planbarkeit der Städte zu immer ausgreifenderen Bauprojekten führte bis hin zum Bau gigantischer Großsiedlungen. Dem stellt sie die Themen der Stadtbauwelt gegenüber, die sich damals ausführlich mit Baurechtsfragen beschäftigte, als sei durch die richtigen Gesetze auch die „richtige“ Stadt machbar.
Dann folgte die große Ernüchterung. Begleitet von den ersten Weltwirtschaftskrisen und Umweltkatastrophen merkten die Planer, welche unmenschlichen Umgebungen sie mit ihren Neubaukomplexen geschaffen hatten und wie rücksichtslos sie dafür die alte Stadt geopfert hatten. Sie besannen sich etwa ab 1975 auf die Stadtgeschichte, die zeitgleich zu einem der wichtigsten Themen der Stadtbauwelt wurde. Die Abwendung von alten Idealstadt-Visionen ging mit einer Illusionslosigkeit einher, der seit den 1980ern eine Hinwendung zu den Menschen und ihrem jeweiligen Blick auf die Stadt folgte, zu emotionaler Annäherung an Städte in Kunst und Film. Im Magazin Stadtbauwelt führte dies ab Mitte der 1990er Jahre zu einer radikalen Hinwendung zu Städtereportagen mit Berichten aus Metropolen in aller Welt. Einige Jahre flackerte Anfang des neuen Jahrtausends wieder eine Beschäftigung mit Theorie auf, berichtet Brigitte Schultz, wobei auch diskutiert wurde, ob es denn überhaupt drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der alten Planungsideologien wieder möglich sei, sich mit theoretischen Konzepten oder gar Idealen der Stadt zu nähern.
An dieser Stelle sei anknüpfend an die Lektüre die Frage gestellt, ob nicht gerade heute Ideale nottun beim Wandel unserer Städte. Die in dem Buch angesprochenen neuen Begleitumstände des global entfesselten Kapitalismus, der den Finanzkonzernen und damit Teilen der Immobilienwirtschaft enorme Macht gibt, drohen unsere Städte mindestens so sehr zu zerstören wie einst die übersteigerten Machbarkeitsmythen der Planer und Politiker. Sich heute damit zu beschäftigen, wie die Städte mit ihrer Geschichte zu bewahren sind, wie man Umwelt und Klima schützen kann und wie trotz der Spaltungstendenzen der Gesellschaft eine soziale Stadt möglich ist, das kann man eigentlich nicht „Theorie“ nennen, sondern diese Fragen sind weit näher an der Praxis als manche Reportage aus exotischen Ländern. Bei allem Respekt für das Engagement der Redakteure erscheinen Städtereportagen aus Schanghai und St. Petersburg so weit weg von unseren heimischen Herausforderungen, dass sie wie eine Flucht vor der Realität wirken, in der Neubaukult und Zersiedelung ungehemmt wirken.
Diese über das Thema des Buches hinausreichende Überlegung soll jedoch nicht dessen Qualität in Abrede stellen, sondern zeigt im Gegenteil, wie sehr die Beschäftigung mit fünf Jahrzehnten Städtebau und Stadtbauwelt den Leser heute anregen kann. Die Autorin Brigitte Schultz hat im Übrigen selbst die Gelegenheit, die Zukunft der Stadtbauwelt mitzugestalten, da sie wenige Jahre nach der ursprünglichen Erstellung des Buches als Dissertation zu deren Redakteurin wurde. Bei aller wissenschaftlichen Gründlichkeit ist „Was heißt hier Stadt?“ verständlich und packend geschrieben.
Brigitte Schultz: Was heißt hier Stadt? 50 Jahre Stadtdiskurs am Beispiel der Stadtbauwelt seit 1964. Jovis Verlag. 384 Seiten, broschiert, 15 x 20 cm. 32,00 €. ISBN 978-3-86859-228-3
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