Zum Willkommensstadt-Buch erschien auf dem Blog „Wem gehört die Welt?“ eine Rezension von Elisabeth Voß, die einige interessante Fragen stellt. Auch oder gerade weil sich die politischen Ansichten des Autors dieser Zeilen in mancher Hinsicht von denen der Rezensentin unterscheiden, lohnt es, sich mit der Kritik auseinanderzusetzen, angefangen mit der Frage aus der Rezension, wer eigentlich mit dem „Wir“ gemeint ist, das in dem Buch so oft genannt wird. Denn in der Tat plädiere ich unter anderem dafür, „dass „wir“ zusammenrücken, Leerstand und individuelle Wohnflächen einschränken, damit ausreichend Wohnraum für alle entsteht“, wie die Rezensentin zusammenfasst. Selbstkritisch sei zugegeben, einige „Wirs“ hätten aus stilistischen Gründen wegfallen können; andererseits schießt die Rezensentin übers Ziel hinaus, wenn sie mutmaßt, das „Wir“ könne „die Volksgemeinschaft“ meinen, was man wohl eine Unterstellung nennen darf. Aber lässt man solche Irritationen beiseite, dann ist es in der Tat eine bedenkenswerte Frage, ob ein Buch über das Wohnen von Flüchtlingen mit dem „Wir“ einen Unterschied aufmachen darf zwischen denen, die nach Deutschland kommen, und denjenigen, die schon da sind. Anders gesagt schreibt Elisabeth Voß, die „Anregungen verpuffen, wenn beim „wir müssen“ unklar bleibt, an wen dies adressiert ist und wer diese Vorschläge umsetzen sollte“. Und genau diese Fragen werden mir bereits zum Buch „Verbietet das Bauen!“ gestellt, etwa bei den Vorschlägen, wie man Leerstand bekämpfen kann oder auf welche Weise sich Wohnfläche sparen lässt.
Darum aber habe ich in dem Bauverbot-Buch eine Antwort darauf gegeben, an wen sich die Vorschläge wenden: In der Zusammenfassung am Ende des Buches, bei den „50 Werkzeugen, die Neubau überflüssig machen“, steht bei jedem einzelnen Werkzeug, wer etwas tun kann.
Wir heißt „wir alle“
Da steht zum Beispiel bei Werkzeugen, wie man den Leerstand erfassen und managen kann, dass diese sich an Eigentümer wenden, an Politiker und Verwaltung, manche auch an Juristen. Bei denjenigen Werkzeugen, die dabei helfen, Räume anders zu nutzen, sind Architekten gefragt, Hochschulen und Wohnungsunternehmen. Und so zieht sich eine bunte Liste durch die 50 Werkzeuge. Diese Angaben sind nützlich, allerdings stößt ihre Aussagekraft an Grenzen: Fast immer können nicht nur einzelne Gruppen etwas tun, sondern Politik und Verwaltung können dieses Handeln unterstützen, durch geeignete Regeln oder finanzielle Förderung. Andererseits bereitet es mir Unbehagen, wenn mancher die Verantwortung für den Stadtwandel auf Politiker oder „die da oben“ abschieben möchte, und so trifft es ebenfalls fast immer zu, dass auch der Einzelne einen Beitrag leisten kann – schließlich wohnt jeder irgendwo und ist daher als Mieter oder Eigentümer selbst in der Lage, über sein Wohnen nachzudenken. Und als Berufstätiger haben viele Menschen eine weitere Möglichkeit, sparsam oder verschwenderisch mit Raum umzugehen. Ebenso ist quasi jeder auch Nachbar und prägt durch sein nachbarschaftliches Verhalten die Offenheit der Stadt und ihre Willkommenskultur, womit wir beim Willkommensstadt-Buch angelangt sind.
„Weil bislang keine der Parteien Neubau infrage stellt, liegt es an uns, politisch zu handeln und zugleich privat umzudenken“, heißt es auf Seite 161 in „Verbietet das Bauen!“, und das gilt sinngemäß auch für die Frage, wer unsere Städte zu Willkommensstädten macht. Etwas vereinfacht kann man Frage und Antwort so formulieren: „Wer ist gemeint mit dem „Wir“ in der Willkommensstadt?“ – „Immer der, der fragt!“ Das „Wir“ bedeutet, dass es beim Wandel unserer Städte um eine gesellschaftliche Aufgabe geht, die jeden betrifft, beruflich und privat.
Wir und die anderen
Freilich benennt die Formulierung „Wir“ den Unterschied zu einer Gruppe, die nicht wir sind, und das sind beim Willkommensstadt-Buch die Flüchtlinge. Man könnte darüber diskutieren, wie lang ein Neuankömmling noch Flüchtling ist und ab wann er oder sie zu den Einheimischen zählt und dann selbst die nächsten Flüchtlinge willkommen heißen kann; aber das ändert nichts daran, dass es einen Unterschied zwischen „uns“ und den neu Hinzukommenden gibt, und sei es eben diese Tatsache, dass andere neu ankommen, während „wir“ schon hier leben. Aber das liegt nunmal in der Natur der Sache, sich Gedanken darüber zu machen, in welchen Städten wir leben möchten und wie dort Integration gelingen kann. Die Scheu, zwischen Wir und Anderen zu unterscheiden, erinnert an die Scheu, Ansprüche an uns selbst und an die Hinzukommenden zu stellen. Die Rezension zeugt meinem Eindruck nach von der – auch sonst weit verbreiteten – Abneigung, Menschen etwas zuzumuten; das sei im Folgenden näher erklärt.
So wendet sich die Rezensentin gegen den Vorschlag einer Wohnortzuweisung, wie ich ihn im Willkommensstadt-Buch vertrete, wobei ich mich unter anderem auf Studien des Empirica-Instituts beziehe. Den Vorschlägen entsprechend sollten Flüchtlinge zum einen nicht mehr allein nach der Einwohnerzahl auf Städte verteilt werden, wie es bislang geschieht, sondern es sollte zumindest teilweise eine Rolle spielen, wo Wohnungen leerstehen. Zum anderen sollten Flüchtlinge in den zugewiesenen Wohnorten zumindest drei Jahre wohnen bleiben, sofern sie nicht andernorts Ehegatten oder eine Arbeit haben. Die Rezensentin gesteht zwar zu: „Die Vorstellung, schrumpfende Regionen durch den Zuzug von Flüchtlingen wiederzubeleben, ist durchaus diskussionswürdig“; doch schreibt sie dann: „Jedoch sollte es selbstverständlich sein, dass dies freiwillig geschieht, und dass nicht die Einen utilitaristisch über die Anderen verfügen“; und sie wünscht sich bezüglich der Flüchtlinge „dass sie gefragt werden könnten, wie und wo sie leben möchten, statt verplant zu werden.“ Das aber wäre keine Wohnortzuweisung mehr. Allein mit Freiwilligkeit würde sich der Trend fortsetzen, dass in diejenigen vor allem großen Städte viele Flüchtlinge ziehen, wo bereits viele leben. Und dann würden die boomenden Großstädte sich weiter schwertun damit, genug Platz zu schaffen, während viele kleine und mittelgroße Orte ungenutzte Wohnungen bieten, und obendrein mancherorts dringend Auszubildende gesucht werden.
Zumutung als Chance
Ja, es ist eine Zumutung, jemandem den Wohnort zuzuweisen, aber die Zumutung an Flüchtlinge in der Nachkriegszeit war um vieles größer: Damals wurden ganze Familien in Zimmer zwangseinquartiert, und die bisherigen Mieter oder Eigentümer bekamen plötzlich neue Mitbewohner. Wie im Willkommensstadt-Buch ausgeführt wird, können wir zwar froh sein, dass heute derartige Zumutungen nahezu undenkbar sind, aber es lohnt doch zu beachten, dass die erzwungene Nähe der Nachkriegszeit die Chancen für Integration erheblich vergrößert hat.
Die wesentlich geringere Zumutung, den Wohnort zuzuweisen, gab es dann noch einmal in den Neunziger Jahren bei den Aussiedlern, und sie galt bis 2009. Wenige Jahre später scheuen sich Bund und Land, dieses Werkzeug anzuwenden. Zwar sieht das sogenannte Integrationsgesetz von 2016 eine solche Regel vor, aber sie beschränkt quasi nur die Aufteilung auf die einzelnen Bundesländer und die Politik schreckt bislang davor zurück, auch einzelne Städte zu unterscheiden und dabei womöglich die Zahl leerer Wohnungen zu berücksichtigen, oder auch die Zahl unbesetzter Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Ein zentrales Argument für eine solche Wohnsitzauflage nennt die Rezensentin leider nicht: Sie wirkt. Auf welche Weise, „hat man bei Spätaussiedlern 2006 untersucht, etwa zehn Jahre nach dem Zuzug: Knapp zwei Drittel der Befragten lebten weiterhin am anfangs zugewiesenen Ort. Dabei war die Bindung an den Wohnort längst ausgelaufen.“ (Willkommensstadt, Seite 168). Viele Menschen hatten sich eben dort eingelebt, wo die Zuweisung sie hinbrachte, und mit Kontakten in Kindergarten, Schule und Arbeitsplatz begannen sie, sich wohl und heimisch zu fühlen.
Urteile und Vorurteile
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Eine andere Verteilung von Flüchtlingen ist kein Allheilmittel für schrumpfende Gegenden. Wir brauchen vielmehr ein
Wiederbelebungsprogramm für unterschätzte Orte, wie es in Kapitel 8 des Willkommensstadt-Buches skizziert wird, mit Programmen für Existenzgründer und Touristen, für Junge und Alte, für Einheimische und Rückkehrer. Das greift manche Werkzeuge des Bauverbot-Buches auf, um regionale Unterschieden zu lindern, etwa die Hundert-Kreative-Stipendien, die ein Jahr lang einen Ort beleben und die Stimmung wandeln sollen (Werkzeug 49 und Seite 149). Wir brauchen solche Wiederbelebungsprogramme auch deswegen, weil Wahlergebnisse zeigen, dass sich in schrumpfenden Orten und unterschätzten Städten Protestwähler häufen, wie ich vor kurzem im taz-Artikel geschrieben habe. Es geht also auch um eine Reaktion auf Trump und AfD, und da schadet es, wenn man Probleme nicht zur Kenntnis nimmt. Und das gilt erst recht für Probleme schwieriger Stadtviertel.
Deren Lage schildern am Beispiel von Berlin Neukölln die inzwischen verstorbene Jugendrichterin Kirsten Heisig in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ sowie der frühere Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky in „Neukölln ist überall“. Beide Bücher berichten ausführlich und teilweise drastisch, welche Probleme es mit Jugendkriminalität gibt, oder mit Schuleschwänzen und schlechten Deutschkenntnissen. Beide aber lassen durchweg eine Liebe zum Stadtviertel und seinen Menschen spüren. Und sie haben selbst mit dafür gesorgt, dass manches besser wird: Kirsten Heisig entwickelte das „Neuköllner Modell“ mit, nach dem Jugendlichen nach Straftaten schneller der Prozess gemacht wird, so dass sie die Folgen ihres Handelns schneller spüren; Heinz Buschkowsky förderte unter anderem die Stadtteilmütter, das sind Migrantinnen, die Menschen gleicher Herkunft im Kiez besuchen und ihnen helfen. Aus all diesen Gründen danke ich im Willkommensstadt-Buch Buschkowsky und in Memoriam Kirsten Heisig für ihre Bücher – und diesen Dank kritisiert nun Elisabeth Voß in ihrer Rezension. Sie wirft Buschkowsky vor, sein Buch enthalte „eine Reihe rassistischer Aussagen“ – wer Buschkowsky kennt, der weiß, dass er manchmal sehr bodenständig und auch provokativ formuliert, und man findet in „Neukölln ist überall“ zweifellos viele Aussagen, die grenzwertig oder sogar politisch unkorrekt sind. Doch sein Buch damit pauschal zu verwerfen und es noch nicht einmal zu lesen, ist unangemessen.
Es ist übrigens ein durchaus flott geschriebenes Buch mit vielen Vorschlägen dazu, was sich in Bildung und Bezirken ändern ließe. Dagegen schmerzt es, die ersten Kapitel von „Ende der Geduld“ von Kirsten Heisig zu lesen, so extrem schildert sie Jugendkriminalität, und zwar sowohl von Links als auch von Rechts, migrantisch oder welche Herkunft auch immer die Täter haben. Es schreibt eben eine Jugendrichterin von ihren Erfahrungen, und auch sie bleibt nicht beim Klagen, sondern macht konkrete Vorschläge, die manchmal einfach darin bestehen, geltendes Recht umzusetzen. Doch auch dieses Buch verwirft Elisabeth Voß unter Bezug auf das Urteil eines Dritten, der Heisig vorwarf, ihre Äußerungen seien „rechtspopulistisch“ „die Gesellschaft spaltend“ und anderes mehr.
Einfache Antworten
Schließlich fragt Elisabeth Voß, ob ich mich auf Buschkowsky und Heisig beziehe, „um es möglichst vielen Seiten recht zu machen?“ Die Antwort auf diese Frage ist klar: Man kann es bei so komplexen Themen wie Stadtwandel und Integration ohnehin nicht allen recht machen, wenn man es sich nicht zu einfach macht. Das Buch zur Willkommensstadt schlägt bewusst einen weiten thematischen Bogen und beschäftigt sich mit Klimawandel und Neubau, mit der regionalen Ungleichheit ebenso wie mit der nicht immer gelungenen Integration der Migranten der Sechziger und Siebziger Jahre und ihrer Kinder. Es ist wegen des rasanten Zuzugs der Flüchtlinge unter Zeitdruck entstanden und enthält hier und da Fehler, wobei ich der Rezensentin für konkrete Hinweise danke und Änderungen (wie zur DDR oder SBZ) für die nächste Auflage vormerke. Das Buch zur Willkommensstadt bezieht sich auf Quellen unterschiedlicher Fachrichtungen, von Stadtplanung und Immobilien über Historiker und Migrationsforscher bis zum Bezirkspolitiker und der Jugendrichterin; und sie alle transportieren bewusst oder unbewusst auch politische Haltungen, die sich aber zweifellos alle im demokratischen Spektrum bewegen. Bei der Vielfalt der Quellen und der Komplexität der Themen ist es auch für mich selbst verblüffend, wie einfach man die Schlussfolgerungen der Überlegungen zusammenfassen kann: Flüchtlinge brauchen keinen Neubau, so schrieb ich bereits in der ZEIT; „Flüchtlinge brauchen, was jeder Mensch braucht: Wohnung und Arbeit, Geld und Liebe, Hoffnung und Freunde“ (Seite 191). Helfen wir mit, dass sie es bekommen.
Links: Zur Rezension des Willkommensstadt-Buches geht es hier, zu meinem taz-Artikel „Kein Stadtviertel wird zurückgelassen“ entweder hier auf dem Blog oder direkt bei der taz. Informationen zu meinen Büchern hier auf dem Blog zu Verbietet das Bauen! und zur Willkommensstadt.
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