Ware: Wohnen!

Titelbild "Ware:Wohnen!"

„Ware: Wohnen!“ oder zur Geschichte des Wohnungsbaus

Wer beim markanten Titel „Ware: Wohnen!“ erwartet, es gebe in Christopher Dells Buch eine politische Aussage dazu, „inwieweit Wohnen die Form einer Ware annehmen darf“, wie es der Klappentext verspricht, der wird enttäuscht. Auch wer angesichts der aktuellen Diskussion um Wohnungsnot neugierig wird, inwiefern dieser Streit „ein politisches Experiment über das Spiel der Kräfte“ in unserer Gesellschaft darstelle, wie es auf dem Buchrücken weiter heißt, wird in die Irre geleitet. Zwar finden sich auf den ersten paar Dutzend Seiten reihenweise Zahlen und Fakten zur aktuellen Entwicklung des Wohnungs- und Immobilienmarktes, und irgendwie scheint immer wieder durch, dass der Autor das Wohnen lieber nicht als Ware behandelt sähe. Doch wer sich durch die verschachtelten Sätze durcharbeitet und die Unmengen an Fremdwörtern und Verweisen ordnet, der wird zu diesen aktuellen und grundsätzlichen Fragen keine klaren Antworten finden. Die verständlichsten Sätze des Buches sind diejenigen auf dem Klappentext, was leider falsche Erwartungen weckt. Aber trotzdem kann sich die Lektüre lohnen, wenn man auf Seite 56 beginnt, mit der „kleinen Geschichte des Wohn- und Städtebaus“. Die wird nämlich tatsächlich auf gut 120 Seiten erzählt, als Geschichte der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Wohnens und Bauens.

Besonders lehrreich ist die historische Tiefe des Berichts: Er beginnt mit den Ausläufern des absolutistischen Städtebaus und leitet über zu den ersten Schritte des Massenwohnungsbaus im 19. Jahrhundert. Dabei geht es im internationalen Vergleich ausführlich um die Umformung von Paris ab 1850 durch Haussmann, der mit brutaler Härte die großen Boulevards durch die Stadt schlug und neue Wohnblöcke entstehen ließ. Ähnlich detailliert dreht sich das Buch um Hobrechts Einfluss auf das Berlin der Gründerzeit. Dell schreibt über Baufluchtlinien und Traufhöhen, über die Terraingesellschaften und die Veränderung von Baurecht und Steuergesetzen, und verdeutlicht so die Ursachen für die überfüllten Mietskasernen am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz dazu beschreibt der Autor die Sehnsucht nach Natur und Luft mit der Gartenstadt-Bewegung. So versteht man auch die Ideale von Licht und Luft in der klassischen Moderne, bis hin zu historischen Details: Es wird klar, dass bereits in den 1920er Jahren jene Trennung der städtischen Funktionen Wohnen, Arbeiten und Erholen propagiert wurde, die dann in der „Charta von Athen“ 1933 festgehalten wurden. Damit landet das Buch bei jenen teils gegensätzlichen Visionen und Idealen, die den Städtebau auch in der Nachkriegszeit und bis heute prägen. Zwar findet man eine Beschreibung des Städtebaus und seiner Leitbilder ab den 1960er Jahren bis heute wesentlich klarer im Buch Was heißt hier Stadt? von Brigitte Schultz. Aber das Verdienst von Dell ist zum einen die historische Einbindung in die Diskussion seit dem Beginn der Moderne, und zum anderen der Blick aus rechtlichem und ökonomischem Winkel. So zeigt er, wie das Ideal der funktionalen Trennung in den 1960er Jahren unser Baugesetzbuch und die Baunutzungsverordnung markierte. Deren Vorgaben zu Wohn-, Gewerbe- und Mischgebieten entscheiden auch heute mit über die Lebendigkeit unser Städte, wie etwa hier mit Christina Kleinheins diskutiert, die das Stadtplanungsamt Bottrop leitet.

Wer sich also für die Geschichte des Wohnungs- und Städtebaus interessiert und sich von Schachtelsätzen nicht abschrecken lässt, für den kann „Wahre: Wohnen!“ ein Gewinn sein. Abschließend sei meine eingangs als Warnung an die Leser geäußerte harte Kritik an den übrigen Teilen des Buches ein wenig gemindert. Ja, es gibt durchaus auch interessante Bezüge zu aktuellen Fragen. Manches findet sich im historischen Teil, wenn etwa der Autor zur Weimarer Republik ausführt, wie die Kredite des Dawes-Plans die Wirtschaft anheizten und den Wohnungsbau aufblähten. Übertrieben viele Kredite für Hausbau, das war ja auch 2007 der Ausgangspunkt der Hypothekenkrise, auf die die Finanz- und die weltweite Wirtschaftskrise folgten. Im letzten Kapitel des Buches finden sich zwar nicht so viele Antworten, wie es der Klappentext nahelegt, aber zumindest viele wichtige Fragen dazu, was denn Stadt ausmache und was das Wohnen ausmacht. Im Ausblick nennt Christopher Dell dann für die Zukunft Fragen wie die nach Um-Bau und Bauen im Bestand, nach Zusammenleben und neuen Wohnformen. Das berührt sich mit den Überlegungen dieses Blogs, nur wo und wie genau, das muss wohl jeder selbst überlegen.

Christopher Dell: „Ware:Wohnen!“ Jovis Verlag, Berlin 2013. 207 Seiten, 18,00 €. ISBN 978-3-86859-268-9. Erhältlich über jede Buchhandlung oder online nicht nur bei dem großen Web-Kaufhaus, das durch seine Konkurrenz die Buchläden bedrängt, sondern stattdessen auch beim klassischen Buchhändler wie zum Beispiel bei Bültmann & Gerriets Oldenburg, eine der größten unabhängigen inhabergeführten Buchhandlungen in Deutschland, wo man per Klick mit Rückgaberecht bestellen kann.

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